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Bericht über die Chorreise 1993 nach Quedlinburg
Die viertägige Kantoreireise zu Beginn der Sommerferien ist seit
Jahren fester Bestandteil der Ära Bredenbach. Die Beliebtheit dieser
Reisen zeigt sich in der jährlich steigenden Anzahl von Kantoreimitgliedern,
die den Lockungen ihres Meister folgen, den guten Ruf der Evangelischen
Kantorei Nagold in die Lande zu tragen.
In diesem Jahr ging die Fahrt mit fast siebzig Chormitgliedern nach Quedlinburg
und damit zum zweiten Mal in die östlichen Bundesländer. Bekanntschaft
war bereits geknüpft durch den Besuch des Quedlinburger Oratorienchors
im Mai in Nagold. So begrüßten sich am Abend des 1. Juli »alte
Freunde« ohne Berührungsängste im evangelischen Gemeindehaus
bei reichlich vorbereiteter Stärkung. Die gegenseitige Freundschaft
besiegelte Ingo Bredenbach mit der Übergabe von »original Schwarzwälder«
Geschenken an Chorleiter Biller. Die beunruhigende Frage nach der Art
der Unterbringung wurde mit verschiedenen Quartieren in Quedlinburg und
dem nahegelegenen Bad Suderode gut bis komfortabel gelöst.
Im Zentrum der Reise stand wie immer der musikalische Auftrag. Bedeutsame
Stätten des Singens waren längst festgelegt, die Werke gut vorbereitet
und bereits in heimischen Aufführungen (Neubulach und Pfalzgrafenweiler)
erprobt. Einem Irrtum unterliegt jedoch, wer vermutet, Proben während
der Reise seien dadurch überflüssig geworden. Nicht nur den
jeweiligen Raum gilt es auszuloten, die beiden Chorleiter - Ingo Bredenbach
und Machiko Katayama - versuchten den Chor auch sängerisch zur Höchstform
zu führen, was wohl ansatzweise auch gelang: Mit gewissem Stolz bescheinigte
der Meister einmal interpretatorische Kompetenz - ein seltenes Lob aus
oft kritischem Munde ! Bewundernswert etwa die Leistung, die der pausenlose
Wechsel zwischen hervorragendem Orgelspiel und äußerst konzentrierter
Chorleitung erfordert !
Der Bogen der Chor- und Orgelwerke spannte sich vom Barock (Schütz,
Bach, Scheidemann) über die Romantik (Brahms, Schumann, Rheinberger)
bis zur Moderne (Schweizer, Bialas, Mauersberger). Das erste Konzert erklang
von erhabener Warte hinunter in die eindrucksvolle romanische Basilika
der Stiftskirche (Dom) zu Quedlinburg. Von »Singet dem Herrn ein
neues Lied« bis »Bleib bei uns, denn es will Abend werden«
tönte das Lob Gottes durch den weiten Kirchenraum. Der anhaltende
Beifall erforderte zwei Zugaben. Zum eindrucksvollen Erlebnis wurde auch
das zweite Abendkonzert in der Pfarrkirche in Blankenburg. Auf dem Heimweg
am Sonntag durften wir in dem gewaltigen hochgotischen Dom in Halberstadt
den Gottesdienst mit unseren Chorgesängen bereichern - ein letzter
Höhepunkt dieser Reise ! Bei all diesen Auftritten hat die neue Praktikantin
des Chorleiters, Machiko Katayama ihre Feuerprobe als Chorleiterin glänzend
bestanden.
Die durchgehend sonnigen Tage in Sachsen-Anhalt waren auch mit nichtmusikalischen
Programmpunkten voll ausgefüllt. Die alte Kaiserstadt Quedlinburg
selbst konnten wir in einer ausführlichen Stadtführung kennenlernen.
Wir wurden Experten im Erkennen der verschiedenen Fachwerkstile, vom Hochständerbau
(14. Jahrhundert) über den gotischen (15. Jahrhundert), niedersächsischen
(16. Jahrhundert) bis zum Quedlinburger Stil (17. Jahrhundert) mit seinen
pyramidenförmigen »Diamantköpfen«. Die Altstadt
mit ihren 1500 Fachwerkhäusern ist seit 1981 Flächendenkmal.
Zu DDR-Zeiten haben vor allem polnische Restauratoren bewundernswerte
Arbeit geleistet. Aber auch in den vergangenen drei Jahren wurde vieles
angepackt und vor dem Verfall bewahrt. Zu dem beeindruckenden Burgberg
mit dem Schloss und der Stiftskirche gelangt man über den »Finkenherd«,
wo der Sage nach Heinrich I. die »Kaiserkrone« angeboten wurde
(»glauben« die Quedlinburger). Die ältesten Teile der
Stiftskirche reichen in die Ottonische Zeit zurück. Die Witwe Heinrich
I., Mathilde, richtete hier oben ein Frauenstift für adlige Damen
ein. Die späteren Äbtissinnen hatten bei den Ottonen den Rang
einer Fürstin und waren bei Abwesenheit des Herrschers gar Reichsverwalter.
Viele Reichstage fanden hier statt. Die jetzige dreischiffige romanische
Basilika wurde 1129 eingeweiht. In der Krypta liegen die Gräber von
Heinrich I. und seiner Gemahlin Mathilde. Im Jahr 1000 nach Heinrichs
Tod (936) wurde diese Krypta von Heinrich Himmler zur SS-»Weihestätte«
gekürt.
Nicht viele Pausen waren eingeplant, in denen »privat« die
Sehens-, Denk- und Merkwürdigkeiten Quedlinburgs ausführlicher
genossen werden konnten. Immerhin gelang es einigen, die Lyonel Feininger-Ausstellung
zu besuchen oder in der Brauereigaststätte das milde dunkelbraune
»Pubarschknall«-Bier zu Harzer Käse zu trinken. Ein besonders
nachhaltiges Erlebnis bescherte auch die Besichtigung der Stiftskirche
in Gernrode, deren Hauptteile aus dem 10. Jahrhundert stammen. Der großartige
Kirchenraum mit seinen byzantinisch beeinflussten Langhausemporen, das
reichgeschmückte »Heilige Grab«, die Tonnenkrypta (älteste
erhaltene nördlich der Alpen), der romanische Taufstein, die Reste
des Kreuzgangs mit den hervorragenden Kapitellen vermitteln zu dem äußeren
Gesamtbild einen unvergesslichen Eindruck. An der Eingangspforte ist ein
längeres Zitat von Wilhelm von Kügelgen (1861) angebracht, in
dem er bekennt: »... Diese alten Kirchen sind versteinerte Psalmen«.
Wir erfüllten sie noch mit gesungenen Psalmen.
Frau Kirst vom Quedlinburger Oratorienchor führte uns durch ihre
geliebte Heimatstadt Thale, deren Ursprung auf ein Nonnenkloster um das
Jahr 900 zurückgeht. Damit wir aber nicht nur den Harzrand kennenlernen,
führte sie uns hinein und hinauf in das tief eingeschnittene wildromantische
Bodetal, was selbst für uns Schwarzwälder ein großes Erlebnis
war. Gewisse Leute hatten es allerdings vorgezogen, mit der Seilbahn zum
»Hexentanzplatz« hinaufzugondeln. Auch wenn wir die Krone
des Bodo in der Tiefe des Wassers nicht gefunden haben, fühlten wir
uns beim Essen und (vor allem!) Trinken im »Waldkater« bereichert.
Die Begegnungen mit den Einheimischen, vor allem den Mitgliedern des Quedlinburger
Oratorienchors, etwa bei einer gemeinsamen Grillparty, bereicherten auf
andere Art. Ein Teil der Nagolder war in der JuBA untergebracht. Unser
Konzert in der Stiftskirche von Quedlinburg war als Benefizkonzert für
diese »Jugendbegegnungs- und Arbeitsstätte« eingeplant.
Wir erkannten schnell, wie wichtig ein solcher Treffpunkt für Jugendliche
aus West, Ost und Ländern der ganzen Welt mit Kursen der verschiedensten
Art ist. In einer spontanen Sammelaktion spendeten deshalb die Nagolder
Besucher noch 1000 Mark für dieses Projekt und für die Finanzierung
des Quedlinburger Musiksommers.
Auf der Heimfahrt waren sich alle einig, dass ein herausragendes Ereignis
des Kantoreilebens seinen äußeren Abschluss fand, innerlich
jedoch vieles weiterwirken wird. Allen Nichtteilnehmern sei versichert
: Quedlinburg ist eine Reise wert !
H. Seitz
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