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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 1.11.1981
Ein
außergewöhnliches musikalisches Erlebnis
Kantor Kaufmann führte erneut Mozarts Messe c-Moll
auf - Bald auf Schallplatte
Nagold. Mit der ihm eigenen Zähigkeit, eine als wichtig erkannte
Idee weiter zu verfolgen, hat Kantor Gerhard Kaufmann erneut Mozarts unvollendete
Messe c-Moll (KV 427) auf sein Programm gesetzt und das vor drei Jahren
erstmals vorgestellte, von ihm hinzukomponierte "Agnus Dei"
einer Revision unterzogen. Die Aufführung in der Stadtkirche darf
er zweifach in seinem Diarium vermerken: als die überzeugendste dirigentische
Leistung seiner Laufbahn und als eine durchschlagende öffentliche
Resonanz, die er so oft vermissen muß.
Es ist müßig zu sinnieren, warum Mozart diese Messe nie vollendete
und den Torso nach der einzigen Aufführung am 26. Oktober 1783 in
Salzburg auf die Seite legte, wie er das bei seinen sakralen Kompositionen
auffallend oft zu tun pflegte. Mit 19 Messen, acht Litaneien und Vespern,
34 vokalen Einzelwerken, vier sogenannten Freimaurer-Kantaten - die rein
instrumentalen Werke einmal ausgeklammert - hatte er genügend Versuche
unternommen, seine Gottesfürchtigkeit auch nach außen hin zu
bestätigen.
Es gibt einen Brief an Vater Leopold vom 12. April 1783, der die Unsicherheit
seines Standortes im Liturgiebereich durchschimmern läßt: "...
Wenn es wärmer wird, so bitte ich unter dem Dache zu suchen und uns
etwas von Ihrer Kirchenmusik zu schicken. Sie haben gar nicht, sich zu
schämen. Baron van Swieten und Starzer wissen so gut als Sie und
ich, daß sich der Gusto immer ändert und daß sich die
Veränderung des Gusto leider sogar bis auf die Kirchenmusik erstreckt
hat, welches aber nicht sein sollte. Woher es dann auch kommt, daß
man die wahre Kirchenmusik unter dem Dache und fast von den Würmern
gefressen findet. Wenn ich, wie ich hoffe, im Monat Julio mit meiner Frau
nach Salzburg kommen werde, so wollen wir mehr über diesen Punkt
sprechen..."
Es ist hier nicht der Ort, über den schon Jahrhunderte andauernden
Konflikt zu reflektieren. Der Messe-Torso, dem schon ein Alois Schmitt
das Credo hinzufügte, hatte keinen anderen Zweck zu erfüllen,
als Mozarts Gattin dem Vater und den Salzburgern als Sängerin zu
präsentieren. Ob Gerhard Kaufmanns zweimaliger Versuch, das Werk
mit dem "Agnus Dei" zu komplettieren, einmal Anerkennung und
Akzeptanz findet, wird sich frühestens erweisen, wenn die nun geplante
Schallplatteneinspielung vorliegt und ein Verleger sich findet, das komplette
Werk in Druck zu nehmen.
Eines darf aber schon heute bestätigt werden: Wer es nicht weiß,
würde nie auf den Gedanken kommen, daß hier einer in Mozarts
Haut zu schlüpfen versuchte, um in seinem Geist zu vollenden, was
dieser selbst - aus welchen Gründen auch immer - in seinem nur 35
Jahre währenden Leben unterließ. Mozart'sche Wesenheit ist
ja nicht einfach imitierbar; an solchen Versuchen sind viele gescheitert.
Was Kaufmann vollbrachte, geht auch über wissenschaftliche Nachvollzüge
hinaus. Es ist intuitives Einleben in die Gedankenwelt eines schöpferischen
Genius. Und dafür muß man - bei aller kritischen Abwägung
- ohne jede Einschränkung Hochachtung bekunden.
Der evangelischen Kantorei gebührt nicht minder diese Hochachtung.
Es war eine ihrer reifsten chorischen Leistungen, die der Rezensent während
einer zehnjährigen Beobachtung am Sonntagabend wahrnehmen durfte.
Und er fügt gleich hinzu, daß die auswärtige Verstärkung
aus Stuttgart (mit Hans Grischkats Tochter und Schwiegersohn) und aus
Altensteig für künftige große Aufgaben anhalten möge.
Außer der tadellosen Intonation und sprachlichen Disziplinen beeindruckte
der Chor vor allem durch seine dynamische Beweglichkeit: Da kam alles,
vom zarten Piano bis zum wuchtigen Forte, wie aus einem Guß bruchlos
ineinanderfließend, und eine großartige Bereitschaft, alle
Wünsche des Dirigenten zu erfüllen. Hier bestätigt sich
wieder einmal die Erfahrung, wie sinnvoll es sein kann, schwer erarbeitete
Werke (ich denke spontan an Frank Martin/Heinrich Kaminski, Karg-Elert/Despres,
an Bruckners Messe e-Moll oder Honeggers König David) von Zeit zu
Zeit wieder aufzufrischen. Jedenfalls waren alle vor drei Jahren noch
vernehmbare Unsicherheiten wie weggewischt.
Was dort, im Dezember 1978, ein Solistenquintett an Verwirrung anstiftete,
darf in die Erinnerung zu rufen erlaubt sein - ließ das Quartett
am Sonntag auch vergessen. Es müssen nicht immer die "großen
Stimmen" sein, gar, wenn sie aus Profilneurose Unruhe in ein Ensemble
tragen. Susann Bucher-Finckh (seit Jahren unständiges Mitglied im
SDR-Chor) und ihre Kollegin Monika Bair-Ivenz (ständiges Südfunkchor-Mitglied)
waren auf jeden Fall die zuverlässigsten Stützen, die sich Kaufmann
wünschen konnte.
Dazu zählt auch der Nachwuchstenor Johannes Egerer aus Neuffen, den
man sich für weitere Aufgaben vormerken sollte. Auch wenn dem Bassisten
in dieser Messe nur eine Statistenrolle zugewiesen wird - der Mindersbacher
Manfred Strohecker konnte in den wenigen Passagen mit seinen Stimmqualitäten
voll überzeugen.
Wie erwähnt, zielten die von Mozart aufgeführten Teile auf Constanzes
Herausstellung in Verbindung mit einer zweiten Sängerin ab. Die eingebauten
Konzertarien ergeben - Mozart sicher bewußt - inhaltliche Widersprüche,
beispielsweise vom "Laudamus" zum "Gratias" (was sich
fortführen ließe), die jedoch im außerliturgischen Rahmen
nicht mehr zur Diskussion stehen.
Monika Bair-Ivenz eröffnete den "edlen Wettstreit" mit
füllig-tragender Stimme. Die hellere von Susann Bucher gesellte sich
im Duett "Domine Deus" hinzu. Der Wohlklang, die ganz auf das
Melos konzentrierte innige Verflechtung beider Stimmen, mit denen sich
hernach der Schmelz des Tenores und zuletzt (im Benedictus) der Strahlglanz
des Basses vereinigt, bildete im Wechsel zu den Chorpartien einen genußvollen
Kontrast.
Kaufmanns schon vor drei Jahren ausgesprochener Wunsch, daß ihm
am liebsten wäre, wenn dem Hörer der Unterschied seiner Zutat
zu Mozarts Nachlaß "unwichtig erschiene", ging in Erfüllung.
Schon die erste der drei Bitten um Vergebung der Sünden im Verbund
von Chor, Solisten und Orchester fügt sich als Summierung vorausgegangener
Passagen bruchlos an. Daß er die weiten Intervallsprünge des
hohen Soprans jetzt "entschärfte" kommt dem angestrebten
Ziel ebenso entgegen wie die geschickt eingeflochtene Modulationssequenz
zwischen der zweiten und dritten Bitte oder der pointiert wuchtige, verminderte
Dominantakkord zum Beginn des dritten Anlaufes - um hier nur zwei auffallende
Effekte von großer Wirkung zu zitieren.
Im "Jungen Kammerensemble Baden-Württemberg" standen Kaufmann
rund 30 Musikstudenten zur Verfügung, die ihrem hierorts schon bekannten
guten Namen vollauf gerecht wurden. Sie gingen auf jede Anregung des Dirigenten
präzise ein, musizierten mit Elan und ebenso hoher Konzentration
wie die Solisten und der Chor. Die über 700 Zuhörer bedankten
sich für dieses außergewöhnliche musikalische Erlebnis
mit langanhaltendem Beifall.
Kritik von Richard Schwarz zum Konzert am 1.11.1981
Überkonfessionell
und künstlerisch überzeugend
Starke Eindrücke von Mozarts "Großer Messe"
durch die evangelische Kantorei Nagold
Nagold. Es ist tragisch, daß die beiden bedeutendsten Werke
Mozarts auf dem Gebiet der Kirchenmusik unvollendet geblieben sind. Beim
Requiem, jenem geheimnisvollen, von Mystik umwitterten Auftragswerk nahm
ihm der Tod die Feder aus der Hand, die "Große Messe in c-Moll"
blieb zunächst aus Zeitgründen, dann durch den Umstand, daß
der Komponist Teile der Messe zur Kantate "Davidde penitente"
verarbeitete, endgültig ein Torso. Über ein Jahrhundert lang
war sie verschollen, und wenn sie heute in unseren Kirchen und Konzertsälen
erklingt, so ist es nur in Anlehnung an die Praxis der Mozartschen Uraufführung
in Salzburg möglich, indem nämlich das Fehlende durch Stücke
aus anderen Messen (er hat deren 16 geschrieben) ergänzt oder in
Mozartschem Geist neu komponiert wird, wofür sich Stadtkirchenkantor
Gerhard Kaufmann zur Aufführung am Sonntag (Allerheiligen) entschlossen
hatte.
Dabei gibt es kaum ein Werk Mozarts, dessen Entstehen ihm mehr Herzensanliegen
war als gerade dieses; geht es doch auf ein Versprechen zurück, das
er seinem Vater gab, der die Ehe mit Constanze Weber in väterlicher
Weitsicht verhindern wollte: "Wolferl" hatte gelobt, er wolle
Gott mit einem großen Werk danken, wenn es ihm gelänge, seine
geliebte Constanze als Frau heimzuführen. Die fromme Begeisterung,
mit der er zur Erfüllung dieses Gelübdes gleich nach der Verheiratung
ernst machte, zeigt eine Briefstelle vom 4. Jänner 1783: "Wegen
der Messe hat es ganz seine Richtigkeit; es ist mir nicht ohne Vorsatz
aus der Feder geflossen, denn ich habe es in meinem Herzen wirklich versprochen."
Was er als gläubiger Katholik, der "fleißig, betet, beichtet
und communiciret", was er im Glück der jungen und erfüllten
Liebe komponierte - erhalten geblieben sind die Messeteile "Kyrie",
"Gloria", ein Credofragment mit dem "Incarnatus" sowie
"Sanctus" und "Benedictus" - hat er in dieser Tiefe
des Ausdrucks, in der hingebungsvollen Frömmigkeit des Herzens, aber
auch in dieser hymnisch aufjauchzenden Pose des Siegers in keinem seiner
Werke (mit Ausnahme vielleicht des Requiems) mehr erreicht, geschweige
denn überboten. Es ist nicht nur in der äußeren Anlage,
sondern auch in der Souveränität des chorisch und symphonisch
durchgebildeten, festlich sakralen Stils die bedeutendste Messevertonung
Mozarts, gereift an der unmittelbaren Auseinandersetzung mit Bach und
Händel. Die Anwendung des fünf- und achtstimmigen Chorsatzes,
die musikalische Ausschöpfung des sinnvoll detaillierten Textes,
Ton- und Zahlen-Symbole, die an die h-Moll-Messe erinnern, die Behandlung
des Orchesters und nicht zuletzt die strenge kontrapunktische Satztechnik
weisen ihm einen Platz in der unmittelbaren Nachbarschaft der größten
Werke des musikalischen Abendlandes zu.
Man muß sich diesen literarischen Rang vergegenwärtigen, wenn
man von der Aufführung durch die evangelische Stadtkantorei Nagold
sprechen will, denn die Wiedergabe erreichte auch diesmal durchaus die
bei Gerhard Kaufmann gewohnte Höhe. Zwar kam er erst im Verlauf des
Kyrie in eine wirklich inspirierte Verfassung, doch wurde solche Schwierigkeit
des Beginnens durch die nuancierte Gestaltung alles Folgenden wettgemacht,
die zu einer die verschiedenen Dimensionen des Werks ausgeleuchteten Interpretation
führte.
Viel Erfreuliches floß da zusammen: das vertraute, unprätentiöse
Verhältnis des Dirigenten zu Mozart, das auch den Schlußsatz
befruchtet zu haben schien, die Ausgewogenheit und die (zumindest auf
weite Strecken feststellbare) Sicherheit des Kirchenchores, der unter
Führung vieler guter Stimmen heikle Stellen achtbar umschiffte und
auch der monumentalen Wirkungen des "Gloria" gerecht wurde.
Bezeichnenderweise ließ Kaufmann gerade die großen Chorpartien
(so auch das "Qui tollis", die "Cum sancto spiritu"-Fuge,
das feierliche "Sanctus" oder das reich figurierte "Osanna")
hell und stark aufleuchten und unterstrich damit ihren barocken, an Händel
gemahnenden Charakter.
Auch mit der Verpflichtung der Solisten hatte der Veranstalter eine recht
glückliche Hand. Die Herren sind ja von Mozart nur kärglich
bedacht, aber die Damen machten es um so schwerer, sich zu entscheiden.
Susann Finckh-Bucher bringt für die umfangreiche und anspruchsvolle
Sopranpartie alles Erforderliche mit: die Lockerheit der Stimme für
die Koloraturen, die Zartheit und Innigkeit für das Legato, den Schmelz
und die Reinheit für das Incarnatus. Sie ist grundmusikalisch und
ordnet die zuweilen opernhaft jubilierende Diesseitigkeit Mozarts ebenso
wie die empfindsamen Lyrismen im "Domine"-Duett einer rühmlichen
Textverständlichkeit unter. Ihre tiefe Einfühlungskraft teilt
sie mit Monika Bair-Ivenz, welche in ihrer Mezzosopranparite einen geradezu
erstaunlichen Stimmumfang bewies. Mit ihrer fein getönten, in herber
Geschmeidigkeit geführten Stimme ergänzte sie ideal Duett und
Terzett und gab darüber hinaus durch lebensvollen Vortrag der Aufführung
wesentlich Impulse. Der Tenor Johannes Egerer wußte sich in der
Akustik des weiten Kirchenraume gut zu behaupten; Manfred Stroheckers
runder Baß fügte sich gegen Schluß in jeder Hinsicht
ebenbürtig in das Solistenquartett ein.
Mit profunder Partiturkenntnis, jedoch ohne die Orgelstimme des Originals,
dirigierte Kantor Kaufmann das "Junge Kammerensemble Baden-Württemberg"
als diszipliniert und flexibel begleitender instrumentaler Partner der
Vokalisten. Die ganze Aufführung durchwehte der Geist des Idealismus,
der den Kirchenmusiker Kaufmann über die Orthodoxie musikalisch-konfessioneller
Berufsbindungen hinaushebt und als echten Künstler ausweist. Von
der Geschlossenheit der Wiedergabe seiner ebenfalls überkonfessionellen
Mozartkomposition zeigte sich daher auch das Publikum der dicht besetzten
Stadtkirche überaus beeindruckt.
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