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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 21.11.1982
"Nun Herr, wes soll ich mich trösten?"
Erstaufführung des Brahms-Requiem in der Stadtkirche unter Gerhard Kaufmann

Nagold. Wenn Johannes Brahms sein "Deutsches Requiem" mit dem ersten Satz aus der Bergpredigt eröffnet "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden" und sich diese Grundhaltung durch das ganze Werk zieht, so ist der Unterschied, die Gegenposition zur liturgischen Requiem-Messe ohne Umschweife definierbar : Nicht die Toten werden beklagt, sondern dem Lebenden, Leidgeprüften Hoffnung signalisiert, die Daseinsängste, die Furcht vor dem Tod zu überwinden.
Daß Kantor Gerhard Kaufmann, für den am Totensonntag mit der Aufführung dieses Brahms-Werkes in der ev. Stadtkirche ein langgehegter Wunsch in Erfüllung ging, gerade diesen Sinngehalt mit intuitiver nachschöpferischer Kraft zu deuten gelang, war das herausstechende Ereignis; weniger ein Glückstreffer, vielmehr Ergebnis intensiver Vorbereitung mit seinem Kantorei-Chor, dem hier die zentrale Mittlerrolle aufgegeben war. Hinzu kam ein überraschend gelungenes Zusammenspiel mit dem "Jungen Kammerensemble Baden-Württemberg" und den beiden Solisten Albrecht Ostertag und Gudrun Schmid. Über 700 Zuhörer aus nah und fern waren Zeuge einer außergewöhnlichen künstlerischen Tat.
Ein solcher Erfolg war weder Kaufmann damals vor die Füße gelegt worden, als er vor knapp zwölf Jahren unter fünf Bewerbern den Vorzug erhielt, einen Kirchenchor neu aufzubauen (was nur mit Überwindung vieler Hürden gelang), noch dem Werk selbst.
Brahms kam, entgegen mancher mißdeutender Interpretationen, auf diese Idee bei der Nachlaßordnung seines großen Förderers Robert Schumann, in dessen Aufzeichnungen der Plan für ein deutsches Requiem entdeckt wurde. Als dann lange hernach die Wiener Gesellschaft der Musikfreunde sich zögernd entschloß, am 1. Dezember 1867 wenigstens drei der bis dahin fertigen sechs Teile aufzuführen, ging das völlig daneben. Erst die Aufführung am 10. April 1868 in Bremen unter Brahm's Leitung schaffte den Durchbruch. Im Sommer gleichen Jahres fügte er noch ein Sopransolo mit Chor (im Gedenken der 1865 verstorbenen Mutter) ein und ließ es sich durch seinen Verehrer Friedrich Hegar (dem "Chor-Barden") in Zürich vorführen. Das komplette Werk erklang erstmals am 19. Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus.
Daß es den Chor und Dirigenten vor große Probleme stellt - wer wollte das leugnen? Deshalb darf man davon ausgehen, daß es sich auch die Nagolder Kantorei nicht auf Anhieb zu eigen machen konnte, daß es des unbeirrbaren Willens des Kantors bedurfte, die Hemmschwellen zu überwinden. Aber das Risiko hat sich gelohnt und "dramatische Schwierigkeiten" durch die plötzliche Absage der ursprünglich vorgesehenen Sopranistin konnten quasi in letzter Minute noch gelöst werden.
Selten konnte man bei Kaufmann eine solch innere Ruhe und Konzentration beim Einstieg in ein Werk beobachten, wie er die tiefen Streicher behutsam aus der Stille und dennoch mit sicherer Tempovorgabe zum wunderschön weichen und nicht minder konzentrierten Choreinsatz hinführte, wie der Chor (den man zu gerne noch um zehn Männerstimmen verstärkt sich hätte wünschen mögen) aufblühend in die Psalmverse "Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten" hineinschwang; das war ein vielversprechender, großer Wurf.
Ein solcher Auftakt ermutigte, gab Sicherheit. Und wenn Kaufmann den zweiten Teil "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" nicht als Trauermarsch, vielmehr als marcia energico auffaßte und vorantrieb, so entsprach das dem eingangs gedeuteten Konzept - oder wie Brahms sich (hinsichtlich der Scheidung der Eltern) Clara Schumann gegenüber ausdrückte: "Zu ändern ist nichts, zu bereuen gibts nichts für einen vernünftigen Menschen und so heißt's einfach voran und durch, den Kopf oben behalten." Großartig gelang der Kontrasteinwurf vom b-Moll zum strahlenden B-Dur "Aber des Herren Wort bleibet" - übrigens einer der erstaunlichsten Modulationsvorgänge als Sinndeutung psychologischer Gefühlsumschwünge, wie das auf so kurzem Weg kein Komponist vordem je auszudrücken vermochte. Auf solchem Urgrund gelang auch die luzide Stimmung der Choreinlage im 4. Teil "Wie lieblich sind deine Wohnungen.
Es war einer der bedeutendsten Konzertsänger jener Zeit, Julius Stockhausen, der Brahms zum 3. Teil seines Werkes inspirierte "Herr lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß". Es war ein Glücksfall für Kaufmann, den bisher nur wenig in Erscheinung getretenen Bariton Albrecht Ostertag (ein Bruder des in Baden-Baden wirkenden hervorragenden Cellisten) für diese Partie zu gewinnen: eine schlank geführte und dennoch füllig tragende, schwellfähige Stimme, die sich scheinbar mühelos in feingeschwungenen Linien entfaltete und wirkungsvolle Kontraste zum beweglich mitgehenden Chor setzte; erneut auch im 6. (technisch schwierigen) Teil "Siehe, ich sage euch ein Geheimnis", der konzeptionell sich wieder auf den 2. Teil bezieht, doch lichteren Inhalts bis zur dramatischen Phase der "Zeit der letzten Posaunen", wo der Chor im drängenden Tempo "Der Tod ist verschlungen in den Sieg" mitreißend-wuchtige Akzente setzte.
An und für sich ist Gudrun Schmids Stimme für die heikle Sopranparte im 5. Teil "Ihr habt nun Traurigkeit" von Natur aus nicht begünstigt wozu die Verengung in hoher Lage und der fast völlige Verzicht auf Textartikulation hinzukommt. Aber die in Freudenstadt lebende Sängerin ist musikalisch und nutzte diese Begabung mit viel Geschick zur Bewältigung der plötzlich auf sie zugekommenen Aufgabe, sodaß auch hier, einschließlich der zarten Choreinwürfe eine sehr ansprechende Lösung des Problems zustande kam.
Ein Kompliment gilt insbesondere dem Chorsopran, wie er nach der nur eintaktigen Orientierungsvorgabe durch tiefe Streicher und Hörner so sicher seinen Einsatzton in der neuen Tonart des 7. Teiles fand und den tröstlichen Ausklang "Selig sind die Toten" (aus der Offenbarung) intonierte, der zugleich wieder eine Wahlverwandtschaft zum 1. Teil herstellte und im sanften Verlöschen der Stimmen und Klänge gleichsam die Grenzen der Seinserfahrung symbolisierte.
Das "Junge Kammerensemble Baden-Württemberg", eine ad hoc von seinem (Bratsche spielenden) Gründer Bernd Gillardon aus Neubulach zu besonderen Anlässen eingeladene, häufig wechselnde Gruppe von Jugend-musiziert-Preisträgern und Musikstudenten, die auch jetzt aus dem weiten Raum zwischen Graz und Köln sich einfanden, hat sich erneut hervorragend bewährt. Das stets akute Problem, vor allem die Blech- und Holzbläser dynamisch auf die vokalen Gegebenheiten zu dämmen, ist ohnehin fast unlösbar, gelang aber Gerhard Kaufmann doch in einem relativ optimalen Sinne, ohne an Klangqualität Einbußen hinnehmen zu müssen. Für diese jungen Musiker war es gewiß auch eine Lernrunde zum angestrebten Beruf. Wenn hier nur ein Name genannt wird, so gilt er stellvertretend für alle anderen: die Sicherheit, mit der ein 18jähriger Heiko Triebener aus Tübingen seine Tuba beherrschte, war ebenso beglückend wie die vielen schönen solistischen Leistungen beispielsweise der hohen Holzbläser. Das JKE hat sich seinen Stammplatz für künftige Aufführungen gesichert!
Bleibt noch nachzutragen, daß Kaufmann zur Einstimmung in dieses großartige Konzert sich auf die Orgelbank setzte, um eine kraftvolle Toccata aus Max Regers Opus 80 erklingen zu lassen, die in ihrer aufwühlenden Rhapsodik eher einen zu starken Kontrast zu dem "Klaren aus dem Norden" heraufbeschwor, aber gerade darum auch die Wirkung der Gegensätze erhöhte. Kaufmann selbst brauchte sich an diesem Abend nicht mehr die Frage aus Psalm 39 (im 3. Teil) zu stellen: "Nun Herr wes soll ich mich trösten?" Sein Unternehmen stand unter einem so glücklichen Stern, erzielte eine so große Ausstrahlung, daß er und alle Mithelfer noch lange davon zehren können. Bleibt nur zu hoffen, daß solch unternehmerischer Geist nie erlischt und auch administrativ die gebührende hohe Anerkennung finden wird.


Kritik von Richard Schwarz zum Konzert am 21.11.1982
Musikalisch und inhaltlich ausgewogen
Große Resonanz bei Gerhard Kaufmanns "Brahms-Requiem" in der Stadtkirche

Nagold. In langsamem Reifen, zunächst als Totenehrung für Schumann gedacht, dann durch den Tod der Mutter noch zwingender motiviert, gewann das "Deutsche Requiem" Gestalt - ein Zeugnis von Brahms tiefer Religiosität. Sie bestimmte ihn bei der Wahl der Bibelperikopen, an denen er - ohne dogmatische Bindung - Trauer und Tröstung allgemein menschlich objektivierte. In der Siebenzahl der sich allmählich fügenden Ringe waltet jene urtümliche Mystik, welche die im Kosmos sich offenbarende heilige Zahl der alten Welt durch alle Religionen bis hin zum Christentum und Stefan George zum "numerus perfektionis" schlechthin erhob. Die Gliederung der sieben Sätze in bogenförmiger Responsion um eine Mitte ist von wunderbarer Geschlossenheit: 1 und 7 als gleichsam liturgisch tönende Außenkreise, 2 und 6 Innenbogen der Vergänglichkeit und Auferstehung, 3 und 5 die zuinnerst schwingenden Todes- und Erlösungsgedanken, alle wie Sphärenharmonien um Satz 4 kreisend, um die Lieblichkeit der Vorhöfe des Herrn. Archaische Elemente und romantische Wesenszüge verschmelzen sich in einem musikalischen Personalstil eigentümlichsten Gepräges, und die Instrumentation paßt sich der tragenden Idee eines jeden Satzes in bis dahin noch nicht gehörter Vollendung an.
So hat Brahms in der Vollkraft seines Schaffens der Welt ein deutschsprachiges Werk geschenkt, das die Nachbarschaft einer "Missa solemnis" oder Bruckners Arssacra nicht zu scheuen braucht und das im zweiten Jahrhundert seiner Existenz längst über die Tagesfehden der Zeitgenossen hinausgewachsen ist: seltsam genug, daß damals die "Brahmsianer" das chorische Gipfelwerk ihres Idols weniger schätzten als dessen Gegner, denen die gefühlsgeladenen Partien Lichtblicke in der Düsternis des Brahmschen Schaffens bedeuteten. Ja, noch vor fünfzig Jahren hielt es ein Musikwissenschaftlicher vom Range Alexander Berrsches für opportun, der Welt (unter dem beziehungsreichen Titel "Trösterin Musika"!) mitzuteilen, er liebe Brahms nicht weil, sondern obgleich er das "Deutsche Requiem" geschrieben habe, was zwar originell formuliert, doch gewiß mehr von der Animosität des Regerschülers als von innermusikalischer Kritik begründet war.
Gut: die übermächtige kirchenmusikalische Tradition konkurriert (wie etwa im Vivace des 6. Teils) mit Brahmscher Symphonik und bringt dadurch seltsame Zwitterwirkungen hervor; das Bemühen, etwas "auszusagen", verschafft außermusikalischen Prinzipien zu großen Einfluß, so zum Beispiel die Symbolik der aufsteigenden Tonartenreihe ("Zuversicht"), des Tritonus ("aber") oder des Orgelpunkts über sechsunddreißig Takte im 3. Teil ("Gottes Hand"), schließlich beansprucht Brahms den Kontrast zwischen archaischen, kirchentonalen Wendungen und Leittönigkeit selten so stark wie im Requiem.
Doch kann man ohne viel Mühe diese Charakterisierung auch ins Positive umdeuten. Worüber aber schlecht zu streiten ist: das Werk gehört zum Heikelsten, woran sich ein Chor wagen kann, stellt es doch, vor allem in den vielen langsamen Teilen, Anforderungen an das Intonationsvermögen und die dynamischen Möglichkeiten der Chormitglieder, denen eigentlich nur ausgebildete Sänger gewachsen sein können. Man durfte also keine unvernünftigen Erwartungen in die Aufführung der Stadtkirchenkantorei setzen und nicht nur daran denken, was man noch hätte besser machen können, sondern auch an die Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen, damit eine Aufführung ein solches Niveau bekommt, wie es Gerhard Kaufmann und seine Getreuen erreicht haben. Schließlich stellt das Requiem nicht nur Probleme technischer Art, sondern auch musikalische: der Tonfall gerät leicht zu larmoyant oder wird unangemessen festlich. Beiden Gefahren entzog sich Kaufmann dank seiner intellektuellen und emotionsfreien Mentalität durch eine Interpretation, die um eine alle Ausdrucksmomente gleichmäßig erfassende und auf jede einseitige Wirkung verzichtende Gestaltung des Werks bemüht war.
Gelegentlich ging dieses Streben nach künstlerischer Ausgewogenheit wohl auch mit einer in Kauf zu nehmenden Einbuße an innerer Spannung Hand in Hand, so zum Beispiel im 2. Satz, dessen Trauermarschcharakter durch recht flüssige Temponahme die letzte Entschiedenheit fehlte, oder am Schluß des dritten, wo die über den schon genannten Orgelpunkt weggeführten Ton- und Akkordfolgen sich in noch dichterer Gedrängtheit hätten fortbewegen können. Andererseits aber verwirklichte sich gerade im 2. Satz auch wieder viel von der sinnvollen Vertonung des Textes, in der Entfaltung eines nach ersten schemenhaften Pianissimi immer gegenwärtiger werdenden Klanges, ausladend und unter eruptiven Paukenschlägen zu einer erschütternden Totenklage anschwellend, die durch Mark und Bein ging, bis sie endlich in die tröstliche Verheißung von der Wiederkunft des Herrn mündete.
Am eindrucksvollsten in seiner dynamischen Anlage geriet für mich jedoch der Kopfsatz. Seine verinnerlichte Ausdruckskraft in der Stille wie im großen Aufschwung setzte Maßstäbe, die in der Entsprechung des letzten Teils nicht mehr ganz eingehalten werden konnten, weil die Forte-Einsätze zu direkt kamen, die umspielenden Achtelwogen der Geigen zu "süffig" - was dem Requiemcharakter dann doch etwas entgegensteht. Um so mehr imponierte die kraftvolle Sicherheit, mit der im 6. Satz der Vivace-Teil "Denn es wird die Posaune schallen" und die große Alla breve-Fuge "Herr, du bist würdig" impulsiv bewältigt wurden. Überhaupt sorgte Kaufmann mit temperamentvollen Gesten so gut es ging für chorische Intensität und Leuchtkraft, den etwas unterbesetzten Tenor konnte er damit freilich nicht verstärken.
Stets war der Dirigent auch auf Ausgewogenheit zwischen seinem Chor und dem solid spielenden "Kammerensemble Baden-Württemberg" bedacht - wer sich auch unter diesem nebulosem Titel zusammengefunden haben mag: es waren durchweg junge, bemühte und fleißig spielende Instrumentalisten, die ihr Bestes gaben. Das Bewußtsein, stetig aufwärts zu streben, noch lernen zu wollen und zu dürfen, beschwingt dieses Ensemble und bewahrt es vor der geistigen Trägheit oder Überheblichkeit der "Routiniers".
Die in der Ökonomie des Ganzen so knapp bemessenen solistischen Teile fanden in der von künstlerischem Ernst und innerer Haltung so wohlproportionierten Aufführung ihre schönste Entsprechung. Der Freudenstädter Sopranistin Gudrun Schmid ist jene engelhafte Süßigkeit des Stimmtimbres zu eigen, die diese aus Himmelshöhen kommenden Tröstungen erfordern, und die Kunst ihrer Atemführung trägt mühelos die selige Ruhe der weitschwingenden Lyrismen. Albrecht Ostertags Bariton erklang in edler Kantabilität, seine eindringliche Deklamation setzte die dramatischen Akzente. Zwei singende Persönlichkeiten, die bekannten, was sie sangen - der hohe ästhetische Genuß wurde sekundär. Um so unverständlicher blieb am Ende die Reaktion eines Teils des Publikums, das nach der visionären Seligpreisung, nach Harfenkadenz und überirdisch schön gesetzten Schlußakkorden in durchaus diesseitigen Applaus ausbrach, als ob der Interpret wichtiger sei und mehr gälte als das Werk selbst. Sollte man nach einer solchen Aufführung, deren Konzept wahrhaftig genug Authenzität verriet, die Anliegen und Intentionen des Komponisten immer noch nicht begriffen haben? Vergänglichkeit, Trost und Hoffnung als Inhalt und Spannungsfeld Brahmscher Musik zum Totensonntag bedarf des lauten Jubels nicht; ihr Realismus ist größer als viele Flüchte unserer Zeit ins analytisch Abwägbare: sie bleibt die Manifestation des Ewigen.

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