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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 31.3.1985
"Herr, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist"
Eindrucksvolle Wiedergabe der Johannes-Passion durch Nagolder Kantorei vor 850 Zuhörern

Nagold. Wenn der sich dem Zeitgeist gar nicht anpassungswillige Johann Sebastian Bach am Ende der Grablegung des gekreuzigten Christus noch einen Engel-Choral im mild glänzenden Es-Dur-Strahl anhängt, so greift er über die Passionserzählung des Johannes hinaus:
Es ist ein Gesang der Hoffnung auf die Überwindung irdischer Pressionen durch die Auferstehung des zu Tode Gemarterten. Der Osterjubel wird schon angekündigt. Für Bach war Musik ein Heilmittel des Lebens, Abbild einer reineren Welt der Gefühle. Die großartige Architektonik der Passion ist angefüllt von Stimmungsbildern einer in sich vollkommenen, unkorrigierbaren, vor wuchtiger Dramatik durchpulsten und dennoch übersinnlichen Daseinserhöhung.
Nach sieben Jahren hat sich Kantor Gerhard Kaufmann zum zweitenmal dieser Johannes-Passion angenommen. Die inzwischen der Kantorei mit 55 Frauen- und 17 Männerstimmen zugewachsene Sicherheit war auf Anhieb vernehmbar. Singtechnisch gab es, von den heiklen Einwürfen bei der Eilt-Arie abgesehen, überhaupt keine Schwachstellen. Erstaunlich sicher, spontan und kraftvoll die Turbae-Ausbrüche im Wechselgesang mit dem Evangelisten, klargeformt mit fülligem Wohlklang die elf Choräle.
Gewiß hatte man sich gleich zum Eingang "Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist" mit mehr Con-brio-Jubel vorstellen können anstelle des sehr gedehnten Ternpos, das dennoch mit einem langen Atem nachzuvollziehen gelang. Hier sollte das glühende Bekennen Vorrang vor dem in Demut neigen erhalten (solches Empfinden drängte sich auf); zu den Chorpartien zugleich das einzig anzubringende Korrektiv. Die Kantorei darf auf ihre großartige Leistung stolz sein!
Alle fünf Solisten waren hier erstmals zu hören. Thomas Carter als Evangelist hat zwar keine große, aber eine doch geschmeidige und, bis auf hin und wieder bemerkbare Ermüdungen, tadellos intonierende Stimme. Kultiviert formte er die Erwäge-Arie, wobei hier unklar blieb, warum die beiden Violen zweimal pausierten und den Part dem Portativ überließen. Dem Rezitativ über den zerrissenen Tempelvorhang fehlte (auch instrurnentaliter!) der rechte ,.Biß", dafür gelangen jedoch Carter zuvor in den Rezitativen "Es stund aber bei dem Kreuze" sowie "Und von Stund an nahm sie der Jünger zu sich" die ausdrucksreichsten Szenen; ebenso schön gestaltete er das Arioso "Mein Herz, in dem die ganze Welt...".
Die Christus-Partie gestaltete Ernst Leipprand (von Beruf Arzt am Katharinenhospital) mit Würde. Ob ihm in der tiefen Lage noch Volumen zuwächst? Das Arioso "Betrachte meine Seel", umrankt von zwei Violen con sordino, ebenso die Eilt-Arie gelangen sehr ansprechend. Als einer der Höhepunkte darf die empfindsame Wiedergabe "Mein teurer Heiland" zusammen mit den Choreinlagen besonders hervorgehoben werden. Hanns Albrecht Merkle (Pfarrer im Remstal) übernahm die Partie des Pilatus und war sich dessen politischer Stellung als römischer Statthalter durchaus bewußt, wobei ihm sein (noch entwicklungsfähiges) voluminöses Organ zustatten kam.
Dass Bach dem Sopran und Alt nur jeweils zwei Arien zuteilte, hat zeitbedingte Ursachen. Die noch bei Bruce Abel sich in guten Händen befindende Beate C. Frey hat (auch intonationsmäßig) begreiflicherweise noch Probleme zu überwinden, zeigte sich aber gerade in der Arie "Zerfließe mein Herze" als ein vielversprechendes junges Talent. Was in der unteren Stimmlage an Volumen noch fehlt, kann sie jetzt schon mit einer fast mühelos sich öffnenden Höhe ausgleichen.
Eigentlich hätte man eine Sängerin vom Format der Altistin Verena Keller (Mainz/ Frankfurt) an die erste Stelle der Soliloquenten setzen müssen, deren Stimme Assoziationen zu einer Norma Procter oder Jessy Norman wachruft. Die vom vortrefflichen Oboen-Duo gerahmte Arie "Von den Stricken" wurde leider durch ein zu dickes Continuo (Fagott, zwei Celli, Kontrabaß, Portativ) beeinträchtigt. Wesentlich kongruenter war "Es ist vollbracht" mit dem famosen Cellosolo und reduziertem Continuo besetzt. Das buchstäblich ausgereizte "molto adagio" kostete diese Sängerin voll aus und brillierte auch im Vivace "Der Held aus Juda". Warum wohl Gerhard Kaufmann zwischen ihrem Abgesang und des Evangelisten Kommentar "Und neigte das Haupt" eine so lange Fermate setzte?
Das mit 15 Streichern und fünf Holzbläsern besetzte "Junge Kammerensemble Baden-Württemberg" hat sich erneut als sehr zuverlässig und engagiert mitgehend bewährt, ebenso Rudolf Schmid auf der leider nur zwei Registervarianten zulassenden Truhen-Orgel. Es wäre verfehlt, zwischen den Schütz- und Bach-Passionen Vergleiche anzustellen - aber ein übergewichtiges Continuo ist eben doch ein generelles Generalbaß-Mißverständnis. Darüber sollte sich Gerhard Kaufmann einmal Gedanken machen und, bei seiner Befähigung und Sensibilität, sich aus eingefahrenen Geleisen freischwimmen, um dem "Lied, das aus der Kehle dringt" wieder das eindeutige Primat zuzuweisen.
Dessen ungeachtet. Was er an diesem Palmsonntag mit seiner Kantorei zuwege brachte, geht weit über ein sogenanntes Kleinstadtniveau hinaus, weil dahinter eben eine eigenschöpferische Potenz steht. Mit 850 Besuchern, darunter viele von auswärts angereiste, wurde in der Stadtkirche ein Rekordergebnis erzielt. Da bleibt nur zu hoffen, daß solcher Zustrom nicht nur bei "altbewährten Meistern" anhält, sondern auch dann, wenn sich Gerhard Kaufmann und seine Kantorei auf noch wenig beackerte Felder begibt. Sie haben es wahrhaft verdient.

 

Kritik von Rudolf Hendel zum Konzert am 31.3.1985
Fesselnde Dramatik und ergreifende Erhabenheit
Die evangelische Kantorei Nagold sang Bachs Johannespassion / Eine bemerkenswerte Aufführung

NAGOLD. Johann Sebastian Bachs "Passio secundum Johannem" erklang am Sonntag in der evangelischen Stadtkirche zu Nagold. Unterstützt vom jungen Kammerensemble Baden-Württemberg und namhaften Vokalsolisten gelang der Nagolder Kantorei unter der Leitung von Gerhard Kaufmann eine bemerkenswerte Aufführung. Von den vermutlich fünf Passionsvertonungen Bachs ist uns neben der Johannespassion nur noch die größer dimensionierte Matthäuspassion erhalten. Eine Passion nach dem Evangelisten Markus hat die Musikwissenschaft inzwischen versucht zu rekonstruieren. Bach komponierte seine Johannespassion im Jahr 1723 und führte sie am Karfreitag, 7. April 1724, erstmals in der Thomaskirche zu Leipzig auf.
Textliche Grundlage des Werkes ist zum einen der Passionsbericht des Johannes-Evangeliums, dem Bach noch zwei eindrucksvolle Stellen aus dem Matthäus-Evangelium hinzufügt ("Da gedachte Petrus an die Worte Jesu, und ging hinaus und weinte bitterlich" sowie "Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück ... "). Weiter treten diesem Bericht noch reflektierende madrigalische Dichtung und die Antwort der gläubigen Gemeinde hinzu.
Die Rezitative des Evangelisten, die fanatischen Chöre der Volksmenge und Kriegsknechte, die Arien und ariosen Partien, die Choräle sowie der groß angelegte Eingangs- und Schlusschor bilden eine vielfältige musikalische Vertonung dieser Texte. So in ihrer Ausdruckskraft gesteigert, vermögen sie zu einem tieferen, unmittelbareren Erlebnis des Passionsgeschehens hinzuführen.
Die dramatische Spannung zwischen den verschiedenen Elementen realisierte der Dirigent Gerhard Kaufmann in einer fesselnden Interpretation. Vor allem im zweiten und dritten Teil der Passion (Szene vor Pilatus bis Kreuzigung) war dies deutlich erlebbar. Wichtigen Anteil daran hatte die Kantorei, die, stets um präzise Textartikulation bemüht, die diffizilen Turbaechöre mit besonderem Engagement darstellte. Der niederträchtige Spott der Kriegsknechte ("Sei gegrüßt, lieber Judenkönig") und auch die Erregtheit (" Weg, weg mit dem, kreuzige ihn ") oder die sture Borniertheit der Volksmenge ("Wir haben ein Gesetz") wurden in ihrem Gestus gut erfasst. Nahtlose Übergänge zur Evangelistenpartie ließen das dichte Geschehen nicht abreißen.
Ruhepunkte zwischen diesen furiosen Passagen bildeten die Choräle und Arien. Bach gebührt das große Verdienst, das evangelische Kirchenlied in seinen Choralsätzen unsterblich gemacht zu haben. Durch geschickte, ruhige Tempowahl (die Fermaten wurden nicht überdehnt) ließ der Chor die geniale Harmonisation der Choralmelodien durchscheinen.
Die Arien, die die Zuhörer zur eigenen Reflektion anregen wollen, gehören zu Bachs schönsten Vokalkompositionen, nicht zuletzt wegen ihrer reizvollen Instrumentalbegleitung. So zum Beispiel die herrliche Arie "Zerfließe, mein Herze", die von Beate C. Frey mit ihrer klaren, hell timbrierten Sopranstimme wunderbar gesungen und von den Holzbläsern einfühlsam untermalt wurde. Gleichermaßen ist auch die kontrastreiche Altarie "Es ist vollbracht" hervorzuheben. Verena Keller zeigte hier die ganze Ausdruckskraft ihrer klangvollen, volumenreichen Stimme im Gegensatz zur expressiven Kantilene des Cellosolos. Ernst Leipprands sonorer, fest gefügter Bass trug der Interpretation der Christuspartie in abgeklärter, gemessener Weise Rechnung. Dagegen ließ Hans Albrecht Merkle die Wankelmütigkeit des Pilatus nicht überhören.
Jede Aufführung einer Bach'schen Passion steht und fällt mit dem Evangelisten. Dieser verantwortungsvollen Aufgabe wurde Thomas Carter, der zudem auch die Tenorarien sang, durchaus gerecht. Nach einem eher zurückhaltenden Anfang gestaltete er mit seiner schlanken, auch in der Höhe weich bleibenden Stimme die anspruchsvolle Partie zunehmend engagierter und ohne stimmliche Trübungen. Eine nicht selbstverständliche Leistung, bedenkt man die enorme Länge dieses Parts.
Letztendlich gebührt ein Lob vor allem dem exzellenten Orchester, das vorwiegend aus Musikstudenten, ehemaligen Mitgliedern des Landesjugendorchesters, besteht. Zusammen mit dem Organisten Rudolf Schmid (Continuo) spielte es rhythmisch exakt, klangvoll und in den kammermusikalischen Teilen überaus durchsichtig.
Über allem stand Gerhard Kaufmann, der mit seiner suggestiven Schlagtechnik (erinnert sei an den großen Eingangschor) seine Intentionen durchzusetzen vermochte und so die Passion im Schlusschoral "Ach Herr, laß Dein lieb Engelein" zu einer überzeugenden Aufführung abrundete.

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