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Kritik von Werner Zintgraf zum Passions-Konzert am 12.4.1987
Musik
zur Passion von Schein, Scheidt, Schütz
Nagolder Kantorei präsentierte sich erstmals unter
der Leitung von Ingo Bredenbach
Wildberg/Nagold. Das Debüt als Chorleiter des neuen Bezirkskantors
Ingo Bredenbach fand bemerkenswerterweise auswärts statt, in der
Wildberger Stadtkirche. Ob dieses Gastspiel quasi als Blutauffrischung
für das dortige, nicht gerade üppig sprießende Kirchenmusikleben
gedacht war? Jedenfalls signalisierten Bredenbach und die Nagolder Kantorei
Bereitschaft zu einer gutnachbarlichen Zusammenarbeit.
Die Wildberger selbst haben dieses Angebot offensichtlich nur zögernd
angenommen. Daß die Bänke wenigstens zu einem knappen Drittel
besetzt waren, ist nicht zuletzt von auswärts angereisten Besuchern
zu verdanken. Umso überraschender der starke Andrang in der Nagolder
Stadtkirche am Sonntagnachmittag, das große Schiff voll-, die Emporen
gut besetzt.
Die "Musik zur Passion" stand ganz im Zeichen der bedeutenden
frühbarocken, fast gleichaltrigen sächsischen Komponisten Schein,
Scheidt und Schütz. Als die "drei großen S", symbolisieren
sie den Beginn einer eigenständigen, gewissermaßen nationalen
deutschen, zugleich protestantischen Kirchenmusikgeschichte.
Ingo Bredenbach eröffnete das vierteilige Programm mit Choralthema
und elf Varitationen über "Warum betrübst du dich, mein
Herz" von Samuel Scheidt (1587 bis 1654) und fügte hernach noch
sechs Variationen über das Choralthema "Da Jesus an dem Kreuze
stund" hinzu. Abgesehen davon, daß er alle Variationen mit
jeweils neuen Registerfarben charakterisierte, bringen natürlich
solche kontrapunktische Studien keine neuen Erkenntnisse; sie sind allenfalls
ein historisch gewichtiges Relikt am Beginn einer Hochblüte des Orgelbaues
und daraus sich entwickelnder Kompositionen.
Weitaus mehr Gewicht haben aus jener Zeit die vokalen Schöpfungen
wie beispielsweise die fünfstimmige Motette "Wende dich, Herr,
und sei mir gnädig" von Johann Hermann Schein (1586 bis 1630).
Obwohl die Kantorei in alter Motettenkunst geübt, waren beim Vortrag
in Wildberg noch Unsicherheiten bei den Stimmeneinsätzen zu spüren,
in Nagold gelang die Interpretation weitaus flüssiger. Auffallendes
Merkmal: ein weicherer Tonansatz mit fülligerem Volumen in den Spitzentönen
der Soprane samt einem sich anbahnenden dynamischen Ausgleich mit den
Altstimmen. Davor, dazwischen rezitierten in Wildberg Pfarrer Heinz Sturm,
in Nagold Dekan Götz Psalmen und biblische Texte zur Passion.
Im Zentrum stand, und soweit vom Rezensenten im Rückblick verfolgbar,
als Erstaufführung der Kantorei die "Historia des Leidens und
Sterbens unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi nach dem Evangelisten
St. Johannes" von Heinrich Schütz (1585 bis 1672). Eines der
ältesten A-cappella-Oratorien, an das sich infolge der Intonationsprobleme
noch in den 50er Jahren nur selten ein Kirchenchor wagte.
Wenn freilich so hervorragende, tonhöhensichere Solisten zur Verfügung
stehen wie der Tenor Wolfgang Isenhardt (vom Südfunkchor und selbst
Dirigent zweier hervorragender Chöre), sind solche Schwierigkeiten
überwindbar. Zu ihm gesellten sich als treffliche Partner für
die Christusworte Anselm Richter (aus der Folkwangschule Essen hervorgegangen)
und als profunder Gestalter der Pilatusworte Hanns Albrecht (nicht Albert!)
Merkle, Pfarrer in Kleinheppach, dem wir schon vor zwei Jahren als Pilatus
in Bachs Johannes-Passion begegneten.
Wolfgang Isenhardts ausdrucksreiche Gestaltung des Johannes-Berichtes
machte es dem Chor leicht, die Turbae-Reaktionen aufzunehmen und das ganze
Geschehen sozusagen in einem Guss ohne Risse darzustellen. Nicht zuletzt
durch seine präzise Gestik gelang dem Dirigenten Bredenbach eine
imponierende Werkinterpretation. In Wildberg wie in Nagold sorgte die
Postierung des Evangelisten auf der Kanzel und der beiden Soliloquenten
auf der Orgelempore für optisch und akustisch ertragreiche Kontraste.
Die Worte von Petrus, Knecht und Magd blendeten drei Chormitglieder ein.
Dass es dem neuen Kantor ein Bedürfnis ist, seine theologischen Dispositionen
und Werkinhalte im Programmheft zu erläutern, wird gewiss als hilfreich
empfunden. Festzustellen bleibt außerdem, daß die Kantorei
trotz des monatelangen Interregnums nach dem Abschied Gerhard Kaufmanns
bis zum Antritt seines Nachfolgers weder qualitative noch personelle Substanz
einbüßte. Kaufmanns in jahrelangem Ringen durchgesetzte Intentionen
kommen nun seinem Nachfolger zugute. Ob und wie er sie konzeptionell fortführen,
verändern und ausweiten kann, wird sich erst im nächsten Jahr
ausweisen, wenn er ein von ihm selbst entworfenes Programm vorlegen kann.
Der Start war jedenfalls sowohl beim Einstand als auch jetzt beim Passionskonzert
vielversprechend.

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