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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert Bach Weihnachtsoratorium am 19.12.1987
Über
900 Besucher in der Nagolder Stadtkirche
Die Kantorei hatte erstmals vier Kantaten aus Bachs "Weihnachtsoratorium"
erarbeitet
Nagold. Fast könnte man meinen, zur Adventszeit gäbe
es in der deutschen Musikgeschichte kein anderes oratorisches Werk als
jene sechs Kantaten, die J. S. Bach für die Weihnachts- und Epiphaniatage
schrieb und wohl erstmals 1734/35 aufführte. Überwiegend notengetreue
Spiegelungen (Parodien) vorausgegangener Passionskantaten oder devoter
Festmusiken für seine Brötchengeber.
110 Jahre hernach unternahm der Breslauer Musikdirektor Mosewius den Versuch,
diese sechs Kantaten als "Weihnachtsoratorium" in einem Block
zu erfassen. Ohne näher auf historische Entwicklungen einzugehen:
In den letzten 35 Jahren avancierte dieser Zyklus zu einem kirchenfüllenden
kommerziellen Renner.
Der ehemalige Nagolder Kantor Gerhard Kaufmann hat, vermutlich aus solchen
Abwägungen heraus, nie nach diesem "Renner" gegriffen,
zumal 1974 die Altensteiger Christophorus-Kantorei drei der Kantaten in
der Nagolder Stadtkirche aufführte. Die Advents- und Weihnachtsprogramme
von Kaufmann gelegentlich nachzulesen, ist allemal einer Rückbesinnung
wert.
Wahrscheinlich aber schwelte innerhalb der Kantorei schon lange der Wunsch,
im Sog der Bach-Nostalgie selbst einmal wenigstens vier der sechs Kantaten
unter Kaufmanns Nachfolger Ingo Bredenbach ins Repertoire aufzunehmen.
Das war offensichtlich überfällig, denn über 900 Besucher
strömten am Samstagabend in die Stadtkirche. Ein solcher Ansturm
aus nah und fern war schon lange nicht mehr zu registrieren. Für
den begabten neuen Kantor im ersten Jahr seines Amtsantrittes ein enormer,
zudem auch verdienter Erfolg.
Bach-Werke aufzuführen ist längst kein Problem mehr - das "wie"
aber eine andere Frage. Ingo Bredenbach hatte sich in einem 30seitigen
Programmheft analytisch geäußert zur inhaltlichen und formalen
Gestaltung und auch zur "Affektenlehre" jener Zeit, zu der wir
kaum mehr Bezüge herzustellen imstande sind; allerdings nicht zu
Bachs sehr differenzierender Rhythmik, die heute durch forsch überzogene
Tempi oft verwischt wird. Auch in manchen Chorpartien, wenn hier beispielsweise
auf Nr. 21 "Ehre sei Gott", auf Nr. 24 "Herrscher des Himmels"
oder auf Nr. 43 "Ehre sei Gott" (als Variations-Affekt!) hingewiesen
wird, wo Koloraturen, Ornamente, Synkopen übergangen, die Texte und
davon ausgehenden "Seelenregungen" vom berauschenden Klangerlebnis
verdrängt werden.
Solche Tempoüberziehungen mit nivellierendem Rhythmus wären
auch an manchen Soloeinlagen noch belegbar. Aufgrund der insgesamt bravourösen
Leistungen wird darauf ebenso verzichtet wie auf kleine, nicht ins Gewicht
fallende Schnitzer. Die Zeit des Reifens steht noch bevor. Festzustellen
bleibt, daß die 60 Frauen- und 20 Männerstimmen im Chor recht
beweglich mitzogen, die Soprane leichter und sicherer wie vordem "Spitzentöne"
treffen.
Ingo Bredenbach holte aus dem früheren Wirkungsort das junge "Meerbuscher
Kammerorchester" mit 19 Streichern, acht Holzbläsern und Paukenist,
rundum sehr zuverlässig und verstärkt durch das (fast arbeitslose)
und bestens bekannte Trompetentrio von Hermann Sauter.
Über die Continuo-Begleitung wäre gewiss noch nachzudenken.
Da hat man nun eine neue Truhenorgel angeschafft und stellte daneben noch
ein kleines Cembalo (der gute Rudolf Schmid hatte ständig hin und
her zu rutschen), dessen zarte Klänge restlos von Cello und Kontrabass
und gelegentlich eingesetzten Soloinstrumenten aufgesogen wurden. Eine
Bredenbach-Marotte? Obwohl wir schon grassere Auswüchse erlebten,
sei angemerkt, daß der sogenannte Generalbass zu den Sologesängen
immer noch zu dick aufgetragen wird.
Mit den vier Vokalsolisten hatte Bredenbach Pech und Glück, Martina
von Bargen-Meiser konnte erst zum Schluss hin ihren (artikulatorisch gewiss
noch verbesserungsfähigen) Sopran entfalten. Frauke Bethge (vom Südfunkchor)
musste aus uns unbekannten Gründen plötzlich absagen. Für
sie übernahm Annkatrin Naidu als "Mezzo" die Alt-Partien
(die eigentlich Altus-Partien sind!) und löste diese Aufgabe durch
ihre artikulatorische Ausdrucksfähigkeit recht gut.
Hervorragend die Bass-Partien des Anselm Richter mit seiner kraftvoll-fülligen
und ausgezeichnet artikulierenden Stimme. Da wäre ein Wiederhören
ebenso wünschenswert wie eine erneute Begegnung mit dem wirklich
strahlenden Evangelisten-Tenor Sibrand Basa. Wie schön, dass es immer
wieder so relativ junge, aber sehr beglückende Sängertalente
gibt! Sie ausfindig zu machen und uns erstmals vorzustellen, sind wir
Ingo Bredenbach dankbar. Dass er darüber hinaus das ganze große
Ensemble souverän im Griff hatte und seine interpretatorischen Vorstellungen
durchsetzen konnte, sei ihm ohne jede Einschränkung bescheinigt.
Am Schluss sorgte er sogar für eine lange Nachhallphase. Aber irgendeinem
gelingt es immer, sein zweistündiges Stillsitzenmüssen durch
Klatschen zu entladen! Natürlich war dann der langanhaltende Applaus
auch hochverdient... aber jetzt können wir beim "kommerziellen
Renner" wieder anfangen!
Kritik von Siegfried Gemeinhardt zum Konzert Bach Weihnachtsoratorium
am 19.12.1987
Die
Musik Bachs vom Text her gestaltet
Aufführungen der Kantaten in der Stadtkirche macht
Bredenbachs Handschrift deutlich
Nagold. In der evangelischen Stadtkirche Nagold und in der evangelischen
Kirche Grömbach führte, wie gestern kurz berichtet, Ingo Bredenbach
am Samstag, beziehungsweise am Sonntag Johann Sebastian Bachs "Weihnachtsoratorium"
auf und er wählte mit Bedacht die Kantaten 1 bis 3 und 5 zur Aufführung
aus. Besprochen wird hier das Konzert in der Nagolder Stadtkirche, die
wohl bis auf den letzten Platz besetzt war. Das Publikum erlebte eine
lebendige, frisch und jugendlich wirkende Darstellung von Bachs beliebtestem
und bekanntestem geistlichem Werk. Die vier Solisten waren junge Sängerinnen
und Sänger mit unverbrauchten Stimmen, das Meerbuscher Kammerorchester
bestand aus großenteils sehr jungen Spielern, darunter viele Musikerinnen,
die Trompetengruppe Hermann Sauter wirkte mit, und die Evangelische Kantorei
Nagold bildete eine imponierende Chorkulisse.
Ingo Bredenbach hatte auch ein äußerst geschickt gestaltetes
und höchst informatives Programmheft aufgelegt, das einer kleinen
Doktorarbeit nahekam, aber auch für den Laien gut und leicht fasslich
und vor allem auch eine standfeste Begründung für seine persönlich
geprägte, eigenständige und in jeder Phase klar überzeugende,
lebendig wirkende und vom Deklamatorischen bestimmte Interpretation von
Bachs Weihnachtsoratorium war. Bredenbach lässt das "Weihnachtsoratorium"
vom Text her gestalten, er versteht die zu Bachs Zeit zum wesentlichen
Bestandteil der Musikästhetik gehörende Affektenlehre als verbindlich
für sein Musizieren.
So dirigierte er mit lebhafter, aber absolut nicht störender Gestik,
die Zusammenhänge klar macht und Worte oder Töne hervorhebt
und in Abschnitte und Zusammenhänge gliedert, die der Text vorschreibt.
Da gab es relativ rasche Tempi (z. B. bei der Einleitungssinfonie zum
2. Teil), da gab es in den Chorälen Portati (deutlich getrennte Akkorde),
die den Textsinn erhellen und eindringlich deutend verständlich machen,
da gab es überraschende Betonungen in den Rezitativen und in den
Chorsätzen oder in den Arien und Duetten, die die Leidenschaften
("Affekte") im Vollzug des Hörens dem Hörer mitzuteilen
vermögen.
Da wurden auch die Chorsätze der Choräle von der textbetonten
Musizierweise nicht ausgenommen, und all das wirkte sehr, sehr überzeugend.
Der Chor der Evangelischen Kantorei Nagold ging auf Bredenbachs Intentionen
mit Selbstverständlichkeit ein, der Chorklang war stets deklamatorisch
betont, die Tongebung beachtlich locker und leicht, die Präsenz der
einzelnen Stimmen wohl ausbalanciert und insgesamt von guter Homogenität.
Das gleiche galt auch für die Solisten, die sich in die Gesamtkonzeption
bruchlos einfügten, ja sie engagiert mittrugen. Jeder dieser vier
jungen Solisten war ausnahmslos eine Klasse für sich. Die beiden
Frauenstimmen erschienen anfangs zwar noch recht zurückhaltend gegenüber
den Männerstimmen, aber sehr bald war auch hier die Balance ausgewogen.
Martina von Bargen-Meiser (Sopran) sang engagiert, lebendig im Ausdruck
und sich mehr und mehr steigernd. Ann-Katrin Naidu (Alt) war für
die erkrankte Frauke Bethge kurzfristig eingesprungen und ließ keinerlei
Identifikationsschwierigkeiten mit Bredenbachs Interpretationsvorstellungen
erkennen und brachte die gleichen Vorzüge wie die Sopranistin mit.
Auch die beiden Sänger standen ihren Partnerinnen in nichts nach,
was stimmliche und interpretatorische Qualitäten oder Textverständlichkeit
anbelangt. Sibrand Basa (Tenor) sang den Evangelisten mit wahrhaft eindrücklicher
Gestaltung und Anselm Richter gestaltete seine Bass-Partie mit warmer
Intensität.
Bredenbach hatte die Solisten nicht einfach nebeneinander postiert, sondern
bewusst auf wechselnde Positionen gedrungen. Auch das kam der dem Werk
innewohnenden Dramaturgie entgegen. So entstand eine bewegt-bewegende
Aufführung, an der das sehr differenziert spielende Orchester und
die gottlob nie auftrumpfende Trompetengruppe Hermann Sauter großen
Anteil hatte. Kleine Unzulänglichkeiten in einer Stimmengruppe des
Orchesters (Intonationsunebenheiten) oder eine Panne in einem Rezitativ
sollen zwar erwähnt werden, wurden aber sehr bald vergessen, zählten
also überhaupt nicht, denn gewichtig blieben der Eindruck der Gesamtdarstellung,
der mitreißende Schwung der Aufführung, die erhellende Textdeutung,
an der das Orchester durch seine transparente Spielweise und die deutliche
Artikulation ebenso hohen Anteil hatte wie uneingeschränkt der Chor
und jeder der vier Solisten.
So galt der spontan einsetzende Beifall in der Stadtkirche Nagold jedem
der Mitwirkenden und ganz besonders der Leistung und Leitung Ingo Bredenbachs,
der das ganze Ensemble zu einer geschlossenen, überzeugenden und
einheitlichen Darbietung zusammenfügen konnte.
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