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Palmsonntag,
13. April 2003, 17 Uhr, Stadtkirche Nagold Bachs "große Passion" Seit dem 16. Jahrhundert entstand im deutschsprachigen, protestantischen Raum als Reaktion auf das durch den 30-jährigen Krieg verursachte Leiden eine Flut mehrstimmiger Passionsoratorien. Diese meist in der Karfreitagsvesper aufgeführten Werke sollten der Zuhörerschaft die Com-Passio, das Mit-Leiden und Mit-Erleben des Leidens und Sterbens Christi ermöglichen und die zentrale Bedeutung des Karfreitags vor Augen führen: Gottes Sohn stirbt freiwillig und unschuldig für uns Menschen am Kreuz. Nur durch sein "Blut des neuen Testamentes, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden" können wir die Gnade Gottes erlangen. Johann Sebastian Bachs Passionen entstammen diesem auf der Rechtfertigungslehre Luthers basierenden Verständnis vom Leiden und Sterben Jesu sowie seiner kraftvollen Auferstehung am dritten Tag. Seit dem frühen Mittelalter wird der Passionstext nach Matthäus traditionell am Palmsonntag gelesen. Bachs Matthäus-Passion erklang wahrscheinlich zum ersten Mal im Jahre 1727 in der Thomaskirche zu Leipzig, wo Bach seit 1723 das Amt des Thomaskantors versah. Die 1721 in Leipzig eingeführte "musicirte Passion" in der Karfreitagsvesper stellte ohne Frage das musikalische Hauptereignis des Kirchenjahres dar. Bach hat die Vertonung dieses Passionstextes einmal überarbeitet und mit der heute aufgeführten, auf der Partitur von 1736 basierenden Fassung nicht nur sein dem Umfang nach größtes geistliches Werk geschaffen: Seine Matthäuspassion gilt als eines der eindrücklichsten Zeugnisse christlicher Kunst sowie als Summa Summarum von Bachs kompositorischem Schaffen schlechthin. Die Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahre 1829 bildet schließlich den Beginn der Wiederentdeckung Bachscher Musik sowie einer bis heute andauernden Wiederbesinnung, Erforschung und Interpretation der Alten Musik insgesamt. Bach verwendet für seine Passion zwei eigenständige Chöre sowie erstmals in der Musikgeschichte zwei ebenso vollständige, selbstständige Orchester. Schon im mächtigen, doppelchörig ausgestalteten Eingangschor wird deutlich, mit welcher Brillanz Bach das ihm zur Verfügung stehende Ensemble nutzt: In dialogischer Form stellen die beiden Chöre die Grundaussage des Textes dar, der dazu auffordert, das Geschehen auf Golgatha mit zu beklagen: "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen. Sehet - Wen? - den Bräutigam. - Seht ihn - Wie?- als wie ein Lamm!" Gleichwohl bestätigend und verstärkend erklingt hierzu der Choral "O Lamm Gottes unschuldig", der, von Bach in der Partitur mit roter Tinte notiert, über dem ganzen Geschehen schwebt. Im Duktus einer Prozessionsmusik führt der Eingangschor den Zuhörer eindrucksvoll auf das Passionsgeschehen hin. Der dem Schlusschor zugrundeliegende, wiegende Grundrhythmus der Sarabande erinnert an die im Barock sehr präsente Idee des Totentanzes. Ähnlich wie im Eingangschor verwendet Bach im Schlusschor die doppelchörige Besetzung wieder dialogisch: Nach dem gemeinsamen, homophonen A-Teil "Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte ruh´ !" besingt im folgenden B-Teil der erste Chor mit den "ausgesognen Gliedern" die Vergänglichkeit irdischen Lebens. Doch schon der Hinweis auf den "Grab- und Leichenstein", der dem "ängstlichen (menschlichen) Gewissen" ein "bequemes Ruhekissen" sein möge, verheißt Trost und Zuversicht. Der zweite Chor dagegen schwingt sich mit dem immer wieder eingeworfenen "Ruhe sanfte, sanfte ruh´" schon fast gen Himmel empor, bevor sich in der Wiederholung des A-Teils Himmel und Erde wieder vereinen und gemeinsam Abschied nehmen. Doch dem Chor obliegen nicht nur die großartig ausgearbeiteten Rahmenchöre, sondern auch zwölf schlichte Choräle, die die Gemeinde symbolisch in das Evangelium mit einbinden: Sie stellen zunächst die Jünger Jesu dar, Judas eingeschlossen ("Bin ich gleich von dir gewichen", Nr.40), aber auch stellvertretend die christliche Gemeinde. Wahrscheinlich wurden zu Bachs Zeiten diese Choräle von der Gemeinde sogar mitgesungen! Der Evangeliumstext, den Bach direkt aus der Bibel übernimmt und in der Partitur immer mit roter Tinte notiert, wird äußerst lebhaft und dramatisch in Szene gesetzt. Hier übernimmt der Chor in den virtuos gehaltenen, oft sehr schnellen und aufbrausenden Turbae-Chören die Passagen der Jünger Jesu, der Priester und Schriftgelehrten sowie des jüdischen Volkes. Der Vorwurf des Antisemitismus kann Bach in dieser Hinsicht nicht gemacht werden: Er verwendet den Evangeliumstext, wie er ist, und gestaltet natürlich eine turbulente, gewaltgeladene Atmosphäre entsprechend mitreißend und eindrücklich aus. Die Frage nach der Schuld speziell des jüdischen Volkes wird aber weder textlich noch musikalisch in irgendeiner Form ausgearbeitet. Bach bezieht die Schuldfrage sowohl in den Arien als auch in den Chorälen immer auf den einzelnen (Christen)-Menschen. So kommentiert der auf den Chor "Lass ihn kreuzigen" (Nr. 45 b) folgende Choral " Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe" nicht das Verhalten des jüdischen Volkes, sondern bringt die Kreuzigung Jesu in Verbindung mit dem Bezahlen der Schuld "für seine Knechte". Die im Geschehen auftretenden Einzelpersonen werden von Solisten gesungen: Im Stil der Zeit werden diese Passagen in Secco-Rezitativen, einer Art Sprechgesang, die nur von der Orgel und dem Cello (= Continuo-Gruppe) begleitet wird, gehalten: Die Musik folgt ganz streng dem Text, gestaltet ihn aber an wichtigen Stellen oft sehr lautmalerisch aus. So geht beispielsweise an der Stelle "Und der Vorhang im Tempel zerriss"(Nr.63a) der Riss in der Bass-Stimme gut hörbar von "oben an bis unten aus". Eine Besonderheit stellen jeweils die Christusworte dar: Sie werden, begleitet durch einen kompletten, in weiter Lage gefassten Streichersatz und die Continuogruppe (Accopagnato-Rezitativ), klanglich deutlich hervorgehoben. Soloarien kommentieren und vertiefen die Evangeliumstexte. Sie nehmen
jeweils Bezug auf das soeben Geschilderte und entfalten ihre Wirkung,
Farbigkeit und Schönheit nicht zuletzt durch das verwendete Instrumentarium.
Sie werden als Zuhörer an einigen Stellen mit vielleicht ganz neuen
Klangwelten konfrontiert werden: Bach hat die jeweiligen Instrumente,
die in unseren modernen Orchestern teilweise gar nicht mehr oder in veränderter
Bauweise verwendet werden, sehr genau gewählt, um dem jeweils geschilderten
Inhalt auch klanglich den entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Für
die heutige Aufführung wurde daher ein Instrumentalensemble verpflichtet,
das eben dieses Originalinstrumentarium beherrscht. Da diese alten Instrumente
aufgrund der verwendeten Materialien sehr empfindlich auf Veränderungen
von Temperatur und Luftfeuchtigkeit reagieren, werden im Verlauf der Aufführungen
einige Stimmpausen notwendig sein. Kritik aus Schwarzwälder Bote vom 15. April 2003 Von Sebastian Bernklau Bilder von der Matthäuspassion
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